Kulturwissenschaftlich orientierte Umbanda-und Candomblé-Studien. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Kulturwissenschaftlich orientierte Umbanda- und Candomblé-Studien
Studienprogramm und I. Ethnomusikologische Tagung der Fakultät für Musik und Kunsterziehung von São Paulo (1973)

I. Tagung z. Umbanda-und Candomblé-Forschung 1973
Die Einführung der Ethnomusikologie in den Fächerkatalog des Hochschulstudiums Brasiliens wurde von Debatten über ihre Bezeichnung, Bestimmung, theoretischen Ansätze, Methoden und Geschichte begleitet (siehe Bericht). Sie sollte nicht lediglich eine neue Denomination für das existierende Fach Volkskunde darstellen (siehe Bericht). Wegen der Bewegung zur Erneuerung der Kulturstudien und der Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft, die seit Jahren in Gang war, sollte das Fach eine kulturwissenschaftliche Orientierung erhalten und in enger Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen betrieben werden.

Neben der theoretischen und kritischen Auseinandersetzung mit der nordamerikanischen Ethnomusikologie sah das Programm die Durchführung von Feldforschungen als Voraussetzung für die Absolvierung des Faches und somit zur Erlangung des Lizentiats in Musik- und Kunsterziehung vor. Da die Mehrheit der Studenten aus bereits vorgebildeten und im Schuldienst stehenden Lehrern bestand, gab es die Möglichkeit, Arbeiten von höherer wissenschaftlicher Qualität durchzuführen, die für die Forschung selbst relevant waren. Durch ihr vorheriges Studium im System der Lehrerausbildung, das mit dem Namen von Villa-Lobos verbunden war, verfügten sie mehrheitlich bereits über Kenntnisse, die im Fach Volkskunde vermittelt wurden. Aus pragmatischen und auch theoretischen Gründen wurden die Themen aus dem Lebensumfeld der angehenden Lizenziaten und der bereits Graduierten, die eine Spezialisierung in Ethnomusikologie anstrebten, gewählt.

I.Tagung z. Umbanda-und Candomblé-Forschung 1973
Von Anfang an als vordringlich angesehene Forschungsgegenstände waren die Umbanda, der Candomblé und verwandte Kultpraktiken.

Die Umbanda stellte ein Kulturphänomen dar, das von den Kulturstudien nur ungenügend beachtet worden war. Sie wies eine erstaunliche Organisation mit Verbänden, Vereinigungen, Ausbildungszentren, Verlagstätigkeit und einem weitgestreuten Netz von Kulthäusern verschiedenster Richtungen auf; zu ihr bekannten sich Menschen aus allen Schichten und Bildungsgraden - auch Volkskundler und Lehramtskandidaten. Sie war jedoch aufgrund ihrer Eigenschaften und durch die Forschungsorganisation kaum Gegenstand systematischer Untersuchungen gewesen. Eine wichtige Kulturerscheinung der Gegenwart Brasiliens, die eine erstaunliche Diffusion erfuhr, wurde somit innerhalb der Kulturstudien nicht angemessen berücksichtigt .

Die Aufmerksamkeit, die die Umbanda und der Candomblé von einigen Sozialwissenschaftlern erfahren hatten, konnte nicht maßgeblich zum Studium der eigentlichen Kulturfragen beitragen, die eine eine tiefere Auseinandersetzung mit den Auffassungen, Bildern und Kultpraktiken voraussetzten. Da Religionsstudien eher konfessioneller Natur waren, hatten theologisch vorgebildete Beobachter Schwierigkeiten, unvoreingenommen und vorurteilsfrei der Umbanda und dem Candomblé zu begegnen, deren Auffassungen verwirrend und deren Kultpraktiken schillernd erschienen und gar kirchlichen Bestimmungen entgegenstanden.

I.Tagung z. Umbanda-und Candomblé-Forschung 1973
Auch für die Volkskunde stellten die Umbanda und der Candomblé ein schwieriges Untersuchungsfeld dar. Sie entsprachen in vielen Fällen nicht den Kriterien, die für die Bestimmung dessen, was Volkskultur war, als maßgeblich angesehen wurden. Durch ihre Organisiertheit, durch die in ihr praktizierte, systematische Schulung, durch die Bekanntheit ihrer führenden Vertreter, durch ihre Offenheit für neue Anregungen und Entwicklungen war vor allem die Umbanda nicht immer traditionsgebunden und anonym und entsprach auch nicht den neuen Ansätzen einer "spontanen Kultur". Vor allem weigerten sich herausragende Vertreter der Umbanda selbst, sie als "Folklore" gelten zu lassen. Diesbezüglich war die Abwertung des Begriffs schon so weit fortgeschritten, dass Präsizierungsversuche durch die Volkskundler keine Wirkung zeigten. Führende Vertreter der Umbanda und Praktikanten lehnten es ab, die Umbanda als einer Kultursphäre zugehörig anzusehen, die als Volkskultur neben der höheren Bildungskultur und der Popularkultur bestünde. Sie betrachteten sich z.T. selbst als Gelehrte, als gebildete Träger spirituellen Wissens. Innerhalb der Umbanda selbst existierten unterschiedliche Strömungen und Tendenzen, und wenn einige Kreise mehr Volkspraktiken des katholischen Heiligenkultes und magische Praktiken verschiedener Provenienzen erkennen ließen, nahmen andere Formen des Spiritismus Allan Kardecs oder selbst der theosophischen Tradition an.

Am Beispiel der Umbanda und des Candomblé ließ sich in besonders eindrücklicher Form die seit 1966 geforderte Erneuerung der Kulturstudien durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse anstatt auf starr aufgefasste Sphären der Kultur-, Volks- und Popularmusik beobachten (siehe Bericht). Die Notwendigkeit der Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft, wie sie von der 1968 gegründeten Gesellschaft angestrebt wurde, offenbarte sich mit besonderer Evidenz am Beispiel der Umbanda und des Candomblé. Auch in ihnen zeigte sich die Bedeutung einer vertieften Auseinandersetzung mit historischen und empirischen Vorgehensweisen in der Forschung, wie sie seit Jahren diskutiert wurde.

Einige Vertreter der Umbanda, die zugleich Kulturstudien betrieben, sprachen von Umbandistik im Sinne eines eigenen Studienbereiches und lehnten nicht nur den Begriff "Folklore" ab, sondern auch eine Fachbezeichnung, die den Terminus "Ethno" in sich trug. Als Ethnologie bzw. Völkerkunde war eine solche Disziplin auf das Fremde in bezug auf die Kultur des Beobachters gerichtet und somit nicht geeignet, um eine Kulturerscheinung zu behandeln, die sich zutiefst als brasilianisch verstand.

Darüber hinaus wiesen diese Vertreter der Umbanda darauf hin, dass ethnischen Kriterien kein Vorrang beim Studium einer Kulturerscheinung verliehen werden sollte, die Universalität für sich beansprucht und Auffassungen und Elemente verschiedener Provenienzen in sich vereinigt. Der vielfach postulierte afrikanische Ursprung der Umbanda wurde von vielen Vertretern des Kultes als nicht bewiesen abgelehnt, und in der Tat kam die Umbanda in ihren Übergängen zum traditionellen Heiligenkult, zum Spiritismus und zur Esoterik in allen Kreisen der Gesellschaft vor. Eine systematische historische Forschung musste hier entwickelt werden.

Die I. Ethnomusikologische Tagung Brasiliens zu diesem Thema wurde mit Arbeiten in Salvador/Bahia 1972 vorbereitet. Die Forschungen in São Paulo wurden nach dem Prinzip der beobachtenden Teilnahme und der teilnehmenden Beobachtung der Mitwirkenden durchgeführt. Verantwortliche Vertreter der jeweiligen Zentren und der Verbandsstrukturen sowie von Verlagen und Geschäften für religiöse Gegenstände sollten an der Arbeit teilnehmen. Als Vorbereitung und begleitend zu den Forschungen wurden sowohl Fachstudien der soziologischen, volkskundlichen und religionswissenschaftlichen Literatur als auch Bücher, Kompendien und sonstige Publikationen aus Kreisen der Umbanda selbst erhoben und gesichtet. Bei diesen Studien ging es vor allem um die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Erklärungsmodelle, Herkunftshypothesen und Versuche der Eruierung bzw. Konstruktion von Systemen von Auffassungen und Praktiken.

Die empirischen Arbeiten wurden in Kultzentren verschiedener Stadtviertel São Paulos und in unterschiedlichen soziokulturellen Umfeldern durchgeführt. Die Netzwerke ihrer Adepten, die z.T. eine große Mobilität aufwiesen, indem sie Zentren frequentierten, die fern von ihren Wohnorten lagen, sollten Gegenstand der Untersuchung sein. Exkursionen und Reisen von Gruppen zu Stränden und anderen Orten mit numinöser Bedeutung sollten ebenfalls beobachtet werden. Dieses Anliegen entsprach auch Bemühungen um die Entwicklung einer kulturwissenschaftlich orientierten Architektur- und Stadtplanungsforschung, die damals intensiv betrieben wurde (siehe Bericht). Eine besondere Berücksichtigung erhielten Zentren, die in von Immigration geprägten Statdtteilen wirkten. Es sollte beobachtet werden, welche Immigranten sich diesen Kultformen näherten und welche ihre religiös-kulturellen Voraussetzungen waren. Auf diese Weise sollte die Rolle der Umbanda bei der Integration dieser Einwanderer in die brasilianischen Gesellschaft untersucht werden. Ein anderer Schwerpunkt der Forschung bezog sich auf das Verhältnis zwischen Umbanda und Erziehung. Da die große Mehrheit der Studenten bereits im Schuldienst tätig war, lag es nahe, durch ihre Schüler Kontakt zu entsprechenden Kultzirkeln aufzunehmen.

Zum Abschluss des Forschungsprogramms wurden die Arbeiten bei einer Tagung vorgestellt, an der Vertreter verschiedener Fächer sowie von Organisationen und Zentren teilnahmen.

Antonio Alexandre Bispo





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