Studien von Kulturprozessen in interamerikanischen Kontexten. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Studien von Kulturprozessen in interamerikanischen Kontexten
Tagung der Organisation für Studien von Kulturprozessen (ND) und des Interamerikanischen Instituts für Musikwissenschaft, Punta del Leste (1973)

Emblem des Interamerikanischen Instituts für Musikforschung
I973 fand eine Begegnung zwischen der 1968 in São Paulo gegründete Organisation für Studien von Kulturprozessen und dem Interamerikanischen Institut für Musikwissenschaft in Punta del Leste und Montevideo statt. Dieses Treffen, das auf Einladung von Prof. Dr. Francisco Curt Lange - dem Entdecker der Musik des 18. Jahrhunderts von Minas Gerais - erfolgte, leitete eine Zusammenarbeit ein, die Jahrzehnte andauern sollte. Diese Einladung war Ergebnis der Bewegung um die Erneuerung der Studien der Barock- und Kolonialmusik, die seit der Gründung der Organisation in Gang gesetzt worden war. In ihr kristalisierte sich eine Bewegung, die die Erneuerung der Kulturstudien durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesshaftes anstrebte. Dadurch sollte die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Entwicklung einer transdisziplinären Kulturforschung gefördert werden.
Emblem von Publikationen des Interamerikanischen Instituts für Musikforschung
Eines der diskutierten Probleme betraf Fragen der Periodisierung der Geschichte. Die Tendenz des Denkens in Epochen brachte die Gefahr mit sich, diese als geschlossene Zeiträume aufzufassen und dadurch den Blick auf transepochale Prozesse zu trüben. Dadurch entstand eine Abtrennung des geschichtlichen Verlaufs, was einer Kategorisierung des Untersuchungsgegenstandes gleichkam, die gar einen speziellen musikhistorischen Forschungszweig entstehen ließ. Das Ziel der Erneuerungsbewegung war jedoch die allmähliche Überwindung von Kategorisierungen des Objekts durch die besondere Beachtung von Prozessen, die durch Trennwände angenommener Kultursphären verliefen. Diese Einsicht war entstanden aus der Bestrebung, das Verhältniss zwischen Geschichte und empirischer Forschung kritisch zu betrachten und neu zu definieren.
Konzert in Maldonado, Uruguay 1973
Die Problematik dieses Denkens in Epochen zeigte sich mit besonderer Schärfe beim Verständnis der Barock- und Kolonialmusik. Die Bestimmung einer Periode der Geschichte Brasiliens als Kolonialzeit ging von Kriterien der politischen Geschichte aus. In der kulturgeschichtlichen Betrachtung verleitete sie zu der Auffassung, eine Zeit der Kolonialkultur als abgeschlossene und abgegrenzte Epoche zu deuten, was die Wahrnehmung des Kolonialismus als Prozess behinderte. Dadurch erschwerte sich die Untersuchung von kolonialen Verläufen und Mechanismen, die keinesfalls abgeschlossen waren, sondern durch die Erschließung und Kolonisierung von Regionen Amazoniens mit besonderer Evidenz und Aktualität ins Bewusstsein der Zeit traten. Die gerade in Gang gebrachten Kulturforschungen in Regionen deutscher Einwanderung Südbrasiliens, die zwar erst nach der politisch definierten Kolonialzeit Brasiliens einsetze, aber dennoch zu einer Kolonisationsgeschichte gehörte, offenbarte die Notwendigkeit, dass die Kulturforschung sich eher nach der Prozesshaftigkeit der Kolonialgeschichte als nach Einteilungen der politischen Geschichte richtete.

Kulturgeschichtlich sollte ebenfalls stärker ins Bewusstsein gebracht werden, dass die Christianisierung des Landes auch nicht auf einmal erfolgt war, sondern einen Jahrhunderte dauernden Vorgang der Missionierung und des Kulturwandels in Gang gesetzt hatte. Auf Brasilien wirkten Prozesse der innerkatholischen Reform und der Rekatholisierung reformierter Regionen Europas, und in diesem komplexen Zusammenhang einer Dynamik der Kulturtransformation sollte der Barock betrachtet werden. Ein Hinweis auf die Missverständnisse, die aus der Übernahme von Periodisierungen der politischen Geschichte in der Kulturgeschichte entstehen konnten, war die Tatsache, dass durch die Gleichsetzung der Kolonialzeit mit der Barockepoche ein Musikrepertoire als "brasilianische Barockmusik" angesehen wurde, das kaum Stilmerkmale des Barock aufwies. Die Beachtung des Barock in enger Beziehungen zu Kulturprozessen würde die Aufmerksamkeit auf umfassendere, gar demopsychologische Dimensionen richten, die die Faszination für den Barock in der Gegenwart - selbst in der zeitgenössischen Architektur und Kunst Brasiliens - erklären könnten.

Das Werk von Francisco Curt Lange bezeugte, dass er seit seinen frühen Publikationen soziologische und kulturanthropologische Aspekte der von ihm betriebenen Musikforschung der Vergangenheit von Minas Gerais hervorhob, sodass sogar von einem von vielen missverstandenen "Mulattenbarock" die Rede war. Nicht nur jedoch die zeitliche Einteilung des Geschichtsverlaufes in abgeschlossene Zeiträume war ein Problem für die Forschung. Auch die räumliche Einteilung des Kontinents nach Nationalgrenzen, die vielfach erst später entstanden sind, stellten ein Hindernis für die angemessene Betrachtung von Geschichtsprozessen dar. Das ausgeprägte Nationaldenken in den 30er und 40er Jahren war ein Hindernis für die Anerkennung der Bedeutung der von ihm zu Tage geförderten Zeugnisse der Kulturvergangenheit Brasiliens. Die Erschließung, Kolonisierung und Missionierung des Kontinents stellten Expansionsprozesse dar, die primär keine nationalen Grenzen kannten, eine Einteilung in iberische Einflusssphären durchlässig machten und sie veränderten. Nur eine interamerikanisch ausgerichtete Forschung, - sowohl hinsichtlich der Kunst- als auch der Volksmusik - kann diesen Eigenarten der Kulturformung des Kontinents gerecht werden, und deshalb hatte Francisco Curt Lange sich für die interamerikanische Bewegung eingesetzt. Die neue Bestrebungen aus São Paulo, die eine Erneuerung der Kulturstudien durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse mit dem Ziel der Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft beabsichtigten, kamen seinen Intentionen entgegen und bedeuteten auch eine Aktualisierung des interamerikanischen Anliegens.

Rahmenprogramm: Konzert in der Kathedrale von Maldonado

Antonio Alexandre Bispo





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