Kulturwissenschaftlich orientiertes Musikgeschichtsstudium. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

Akademie Brasil-Europa

für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

 


Chroniken
Auswahl aus früheren Veranstaltungen


Kulturwissenschaftlich orientiertes Musikgeschichtsstudiums im Hochschulbereich
Sitzungen zur Gründung des Zentrums musikhistorischer Forschung der Fakultät für Musik und Kunsterziehung São Paulos 1972

Blaskapelle in Pirapora SP, Archiv A.A.Bispo
Die Bestrebungen zur Erneuerung der Kulturstudien in Brasilien, die 1968 mit der Gründung der Gesellschaft, die heute die Organisation Brasil-Europa bildet, ihre amtliche Konstituierung fanden, führten zur Einsicht, dass eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse notwendig war, um Probleme zu lösen, die aus einer Kategorisierung des Forschungsgegenstandes nach Kultursphären resultierten (siehe Bericht).

Vorgänge, die durch die Trennwände der Sphären der Bildungs-, Volks- und Popularkultur gleichsam wie Diffusionsströmungen in der Natur hindurchziehen, sollten in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses treten und damit allmählich sowohl Denkmodelle der Kategorisierung des Forschungsgegenstandes als auch die sich danach orientierenden Forschungszweige zu überwinden helfen. Diese besondere Beachtung von Abläufen, die zwischen den Sphären der Bildungs-, Volks- und Popularkultur erfolgten, lenkte den Blick auf Bereiche des Kultur- und Gesellschaftslebens, die sich den eindeutigen Zuordnungen zur Bildungs-, Volks- oder Popularkultur entzogen, keinen Platz in dem System der etablierten Disziplinen fanden und dadurch wenig untersucht worden waren.

Wenn sich historisch ausgerichtete Kulturstudien vorwiegend der "höheren" Kultur, Kunst und Musik annahmen, die empirisch vorgehende Volkskunde sich der Folklore-Forschung widmete und die inzipiente Popularkulturforschung Anregungen aus den Kommunikations- und Medienstudien suchte, so stellte sich bei diesen Kulturerscheinungen "zwischen" den Kultursphären das Problem geeigneter Kriterien methodischer Verfahrensweise.

Blaskapelle in Pirapora SP, Archiv A.A.Bispo
Die unzureichende Beachtung von Sphären des Kulturlebens, die "dazwischen" lagen, zeigte sich u.a. bei der schwierigen Behandlung von "Kleinmeistern" oder Komponisten, die weder der Kunst- noch der Volks- oder Popularmusik zuzuordnen waren. Immer stärker kam die Bedeutung ihrer Rolle in Geschichte und Gegenwart als Vermittler zwischen den Sphären, als Mediatoren und als Agenten sowohl von Entwicklungen als auch von Verharrungstendenzen zum Bewusstsein. Sie waren in gewisser Hinsicht Vorboten und Protagonisten vorwärtsgerichteter Veränderungen und zugleich Vertreter der Tradition. Diese Funktion übernahmen die Leiter von Kirchenorchestern und -chören von Bruderschaften oder Kirchen kleiner Städte und vor allem Dirigenten und Musiker von Blaskapellen.
Juca Bolinho, Pirapora, Archiv A.A.Bispo
Ihr Schaffen und Wirken erschien zuweilen als volkstümlich, aber nicht als Ausdruck der Volkskultur bzw. Folklore, obwohl sie zur Bildungskultur des jeweiligen Kontextes gehörten, sie wurden jedoch auch nicht der Popularmusik zugerechnet. Sie zeigten, dass es neben dem Problem der Kategorisierung des Forschungsgegenstandes nach Bildungs-, Volks- und Popularmusik auch Fragen der Unterscheidung zwischen Sphären des Sakralen und des Weltlichen gab, zwischen denen oft die "Kleinmeister" standen. Sie waren in den kleineren Gemeinden oft Leiter der Kirchenorchester und der Blaskapellen. Sie vermittelten zwischen den Sphären, integrierten Musiker, Praktiken und Formen des weltlichen Musiklebens in die Kirchenmusik und wurden dementsprechend im Rahmen der kirchenmusikalischen Reform als Agenten einer verweltlichten Kirchenmusikpraxis angesehen und verdrängt. Sie vertraten somit als Blaskapellmeister eine auf das Weltliche reduzierte Strömung des Musiklebens, die für das Geschichts- und Kulturbewusstsein der gesellschaftlichen Kontexte, in denen sie wirkten, von maßgeblicher Bedeutung war. Sie besaßen auch häufig Dokumente der zerstörten Archive alter Kirchenorchester und -chöre.

Die Untersuchung der Blasmusik und auch der durch sie ermöglichte Zugang zur Erforschung verbannter Kirchenmusikpraxis  konnte nicht allein nach Sichtweisen und Methoden konventioneller Musikgeschichte erfolgen. Quellenstudium verband sich notwendigerweise mit der Feldforschung, regionale und lokale Kultur- und Musikgeschichte mit Volkskunde und Werke, Kompositionen, Bearbeitungen und Kopiearbeiten eines Musikers waren zerstreut in Notensammlungen von Städten, die zuweilen weit voneinander entfernt lagen. Die Erhebung solcher Quellen gepaart mit Befragungen ermöglichte somit historische und empirische Erkennung vorhandener und Rekonstruktionen vergangener Netzwerke von Kontakten zwischen Ortschaften und zwischen diesen und bestimmten Kreisen des Musiklebens der Großstadt. Das Gedächtnis der Informanten konnte die auf Quellen basierte Geschichtsforschung ergänzen, und umgekehrt wurden durch die von der Untersuchung historischer Dokumente gewonnenen Kenntnisse präsiziert.

Durch die Auskünfte der Informanten und durch die Beobachtung vereinzelt noch vorhandener Praktiken traditionsgebundener Kreise konnten Hinweise auf Vortrags- und Interpretationsweisen gewonnen werden, die aus den Quellen nicht immer zu ersehen waren. Sie ermöglichten auch das Erkennen von Kontexten, förderten dadurch eine kontextgerechte historische Musikkulturforschung und verhinderten unangemessene, verklärende oder degradierende Deutungen sowie historizistische Versuche der Rekonstruktion von Idealbildern, die der Wirklichkeit nicht entsprachen und sie ihrer Eigenarten beraubten.

Vor allem führten die eher in der empirischen Kulturforschung angewandten Verfahren der "aktiven Teilnahme" zur Partizipation der Forscher am Kulturleben von Gesellschaftskreisen, deren Kultur sie untersuchen wollten, was auch eine soziale Komponente beinhaltete und eine soziale Funktion der Forschungsarbeit begründete. Daraus entstand der Plan, umgekehrt die aktive Teilnahme von Vertretern dieser Kreise an einem experimentellen Chor und Orchester zu ermöglichen und damit die in den Archiven erhobenen Werke der "Kleinmeister", die z.T. nur anonym überliefert worden waren, kontextgerecht einzustudieren.

Mit dieser Absicht wurde in Kooperation zwischen den Disziplinen Musikgeschichte und Ethnomusikologie der Fakultät für Musik und Kunsterziehung São Paulos 1972 ein kulturwissenschaftlich orientertes Zentrum musikhistorischer Forschung gegründet, das als erstes seiner Art sich vor allem der Musikgeschichte lokaler und regionaler Netzwerke der bis dahin wenig beachteten Sphäre zwischen Kunst- und Volksmusik widmete.

Forschung und Lehre sollten mit der Praxis des experimentellen Chors und Orchesters einhergehen. Es sollte u.a. der Frage nach dem Kultur- und Traditionsbewusstsein der lokalen und regionalen Musikpraxis der Vergangenheit São Paulos bzw. einer Identität der "música paulista" und ihrer Veränderung nachgegangen werden. Zu den Veranstaltungen dieses Chores und Orchesters zählten eine Feier zum Anlass des Besuches von Mitgliedern der kaiserlichen Familie in São Paulo 1973 in der Kirche des Stadtviertels Aclimação sowie Konzerte in der Kirche des alten Priesterseminars am Jardim da Luz sowie an derjenigen der traditionsreichen Bruderschaft Unserer Frau des Guten Todes.

Antonio Alexandre Bispo





Sitemap


Die Akademie

Zielsetzung und Geschichte   -   Organisation   -   Studienzentrum   -   Archive

Aktivitäten

Forschungsprogramme   -    Themen   -   Berichte   -   Chroniken

Online-Zeitschrift

Revista Brasil-Europa

Institutionelle Bindungen

Brasil-Europa   -   I.S.M.P.S. e.V.

Allgemeines

Kontakt   -   Impressum