Praxis kulturwissenschaftlich reflektierter Kulturdiffusion. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

 


Chroniken
Auswahl aus früheren Veranstaltungen


Erprobung der Praxis kulturwissenschaftlich reflektierter Kulturdiffusion
Festival der Organisation für Studien von Kulturprozessen (ND) und des Kulturamtes São Paulos, 1970

Freilichtkonzert des Festivals Neue Diffusion 1970
Die 1968 eingetragene Gesellschaft, die heute die Organisation Brasil-Europa bildet, strebte nach einer Erneuerung der Kulturstudien durch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Prozesse. Die Durchlässigkeit der Trennwände zwischen den Sphären der Bildungs-, Volks- und Popularkultur sollte ins Bewusstsein gebracht und gefördert werden. Da diese Sphären eine Kategorisierung des Untersuchungsgegenstandes darstellten, die Disziplinen bestimmte, wurde hier der Weg gesehen, um eine Änderung des Denkens und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern und zugleich den Weg zur Entwicklung einer transdisziplinären Kulturwissenschaft zu ebnen. In Analogie zu Naturverläufen der Osmose sollte der Blick vornehmlich auf Vorgänge, die durch die Trennwände der Kultursphären verliefen, gerichtet werden.

Dieses Modell konnte unter verschiedenen Aspekten verstanden werden. Sie waren vor Jahren in Gang gesetzt worden durch die Feststellung, dass in der Musikgeschichte die Aufnahme volksmusikalischer Elemente in die Kunstmusik - allen voram im Zeichen des musikalischen Nationalismus - und in der Volkskunde das Weiterleben in der Volkstradition von Musikformen der Kunstmusik oder populärer Gesellschaftstänze früherer Zeiten festzustellen war.

Thematisiert wurden im Verlaufe der Überlegungen Bezüge zwischen den Kultursphären und sozialen Räumen bzw. Sphären der Gesellschaft. Zeugnisse hierfür wurden darin gesehen, dass z.B. in Stadttheatern, Konzertsälen und traditionsreichen Konservatorien Popularmusik nicht zugelassen war und die Versuche, diese Situation zu ändern, als skandalträchtige Transgression und gleichsam Entsakralisierung empfunden wurden und deren Agenten als Subversive der bestehenden Ordnung erschienen.

Es gab subtilere Differenzierungen von kulturellen und sozialen Sphären. So gab es Kreise der Neuen und der Alten Musik, die Zuordnungen zu bestimmten Gesellschaftsschichten mit intellektuellen - wenn auch unterschiedlichen - Interessen erkennen ließen, welche sich z.B. von der von der Klassik und Romantik geprägten Welt der Pianisten unterschieden. Diese, wenn sie um renommierte Lehrer kreisten, hoben sich ab von denen der Konservatorien. Kammermusikensembles  und Blasmusikkapellen wurden von Musikern aus unterschiedlichen  sozialen Schichten gebildet. Das Publikum der Oper unterschied sich in vielen Fällen von dem der Konzerte, und hier könnte man weitere Unterscheidungen finden. Einige Instrumente - z.B. Akkordeon oder bestimmten Blasmusikinstrumente - wurden mit einfacheren Gesellschaftsschichten assoziiert als das Klavier. Es gab somit vielfältige Möglichkeiten des Aufspürens von Beziehungen zwischen Sphären des Musiklebens selbst innerhalb der "höheren" Bildungskultur und Kreisen der Gesellschaft, was einen sozialwissenschaftlich ausgerichteten Ansatz bei der Musikforschung rechtfertigte.

Damit berührte man einen Themenkreis, der unmittelbar mit politischen Fragen der Kulturdiffusion zusammenhing. Seit den sechziger Jahren waren von Kulturinstitutionen, Konzertgesellschaften, Kulturämtern, Konsulaten und Botschaften verstärkte Bemühungen zu verzeichnen, neue Publikumsschichten zu erschliesßen, neues Repertoires vorzustellen und somit zu einer Erneuerung des Musiklebens beizutragen. Es stellte sich für die Gesellschaft "Neue Diffusion" die Frage, ob diese Anliegen mit dem Bestreben nach einer Erneuerung der Kulturstudien auf dem Weg zu einer transdisziplinären Kulturwissenschaft in Beziehung gebracht und somit auf einer reflektierte Grundlage gestellt werden könnte.

Im Rahmen dieser Bestrebungen wurden bestimmte Aspekte möglicher Interaktionen zwischen den Sphären thematisiert. Durch Veranstaltungen in ungewohnten kulturellen und sozialen Kontexten sollten deren Auswirkungen und ihr Erneuerungspotenzial erprobt und anschließend analysiert werden. So wurden beispielsweise Aufführungen mit alten Musikinstrumenten sowohl mit Werken der alten Musik als auch mit neuen, dafür geschaffenen Kompositionen in traditionsreichen Konservatorien veranstaltet, die der Musiktradition des 19. Jahrhunderts, vor allem der Klaviermusik, verhaftet waren. Wenn die alte Musik in diesen konservativen Kreisen Erneuerungsimpulse hinsichtlich Repertoire und Auffassungen bot, die bei sich anschließenden Gesprächen mit Dozenten und Studenten diskutiert wurden, stellte sich die Frage nach ihrer Wirkung auf Zuhörer verschiedener sozialer Schichten. Um dies zu erproben, wurden Konzerte mit alten Musikinstrumenten auf öffentlichen Plätzen sowohl sozial gehobenener als auch ärmerer Stadtviertel realisiert. In manchen Fällen wurden die Auftritte gar als Provokation aufgefasst, die den Einsatz von Schutzpersonal erforderte. Überhaupt sollte diese Initiative die Praxis von Freilichtkonzerten unter anderen Kriterien als solchen der sogenannten Popularkonzerte erproben. In Anknüpfung an die Rolle, die seit dem 19. Jahrhundert öffentliche Konzerte im Freien - z.B. in Frankreich - für die Verbreitung von Werken und für die Musikentwicklung gespielt hatten, sollte eine neue, kulturell reflektierte Art von Freilichtkonzerten im Rahmen einer Politik der Kulturdiffusion versucht werden. So wurden u.a. anspruchsvolle Orchesterkonzerte auf öffentlichen Plätzen angeboten, die von unterschiedlichen Bevölkerungskreisen frequentiert waren. Ein anderer Schwerpunkt der Experimente galt der Neuen Musik. Konzerte zeitgenössischer Komponisten wurden beispielsweise in kulturkonservativen Musikschulen sozial schwacher Viertel angeboten, was z.T. von Äußerungen der Entrüstung und Polemik begleitet wurde.

Antonio Alexandre Bispo





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