Barock als Problem. Epochendenken in der Geschichte und Studien von Kulturprozessen. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Epochendenken in der Geschichte und Studien von Kulturprozessen: Barock als Problem
Tagung und Festival "Barockmusik", Organisation für Studien von Kulturprozessen und Kulturamt der Stadt São Paulo, 1968

Programm des Festivals Barockmusik 1968
Die Bewegung zur Erneuerung der Kulturstudien, die 1968 als eine Gesellschaft amtlich eingetragen wurde und heute die Organisation Brasil-Europa bildet, war aus Überlegungen über das Verhältnis zwischen Geschichte und empirischer Kulturforschung hervorgegangen (siehe Bericht). Die Diskussion führte zur Einsicht, dass eine Ausrichtigung der Aufmerksamkeit auf Kulturprozesse in Geschichte und Gegenwart zu einer Erneuerung der einzelnen Disziplinen und der Kulturforschung im Allgemeinen beitragen könnte.

Eines der in dieser Hinsicht festgestellten Probleme war ein zu starres Denken in Epochen, das das Risiko einer Aufteilung des geschichtlichen Verlaufes in abgeschlossene Perioden in sich barg und so die Untersuchung von Prozessen behinderte. Dieses Denken förderte u.a. eine Sicht der Kultur-, Kunst- und Musikgeschichte in abgegrenzten Zeiträumen und in Zeiten "vor" und "nach" einer bestimmten Stilepoche, was den Blick auf die Dynamik der Entwicklungen, auf Kontinuitäten und Veränderungen trübte. Wie in den Kulturstudien eine starre Eingrenzung des Studienobjekts in Kategorien der Bildungs-, Volks- und Popularkultur durch eine stärkere Beachtung der Vorgänge zwischen diesen überwunden werden sollte, so sollte in zeitlicher Hinsicht die Durchlässigkeit von Trennwänden zwischen den Epochen stärker ins Bewusstsein treten. Der Begriff "Phase" schien eher geeignet, den zeitlichen Verlauf zu gliedern, wurde jedoch oft unreflektiert dem Denken in Epochenkategorien untergeordnet. Die Schwierigkeiten bei Auswahl von Kriterien zur Periodisierung der Geschichte waren Gegenstand von Studien im Rahmen des Fachbereichs Methodologie der Geschichte an der Fakultät für Geschichte und Geographie der Universität São Paulo. Diese Problematik konnte aus interdisziplinärer Sicht von der Debatte im Bereich der Kulturforschung neue Anregungen erhalten und wiederum zur Entwicklung des Denkens in den Kulturstudien beitragen.

Die Notwendigkeit ausdifferenzierter Überlegungen trat in Bezug auf den Barock besonders in Erscheinung. Die Faszination für Architektur, Musik und Kunst des Barocks war in vieler Hinsicht spürbar. Ensembles und Kammerorchester widmeten sich der Propagierung von Werken der Barockzeit mit dem Ziel, das Konzertleben zu erneuern, das als zu sehr von einem konventionellen Repertoire der Klassik und Romantik geprägt empfunden wurde. Die geforderte Aufmerksamkeit auf Prozesse der Kulturdiffusion musste dieses Phänomen beachten und - wenn auch unter veränderten Vorzeichen - es als ein erneutes Aufblühen von Bestrebungen erkennen, die bereits in früheren Jahrzehnten wirksam gewesen waren.

Kunst und Architektur der Barockzeit prägten die kunstgeschichtliche Betrachtung, erschienen als Zeugnisse einer Blütezeit der Kultur des Landes und ließen die darauffolgende Zeit als verblasst und gar dekadent erscheinen. Dieses kunstgeschichtliche Bild, das zugleich die Kolonialzeit Brasiliens aufwertete, stellte ein nicht genügend reflektiertes Paradoxon für ein Land dar, das seine Unabhängigkeit erst 1822 erlangt hatte, und stand in Widerspruch zu Sichtweisen der politischen Geschichte. Auch hinsichtlich der Musik Brasiliens war ein erhöhtes Interesse für die Barockzeit spürbar. Die seit Jahrzehnten vornehmlich von Francisco Curt Lange aufgedeckten Werke wurden in ihrem früher oft verschmähten Wert allmählich anerkannt und zunehmend in Konzertprogrammen beachtet. Hier zeigten sich allerdings in größter Evidenz die mit dem Barock verbundenen Problemen. Diese brasilianische "Barockmusik" zeigte eher Charakteristika vorklassischer Musik Europas und entbehrte häufig Merkmalen eines Barockstiles. Die Frage der Qualität dieser Kompositionen beschäftigte weiterhin Kritiker und praktische Musiker, und es erschien vielen als unvertretbar, sie neben europäische Werke zu stellen und aufzuführen. Sie wurden eher als Dokumente von kulturgeschichtlichem Interesse angesehen, die zu speziellen Anlässen vorzustellen, aber nicht in das Konzertleben zu integrieren waren. Die Gegenüberstellung europäischer und brasilianischer Musik des gleichen Zeitraumes schien somit als ein notwendiges Unterfangen, um diese Schwierigkeiten ins allgemeine Bewusstsein zu bringen und damit Wege zur Erarbeitung anderer Sichtweisen und Wertkriterien zu eröffnen. Es ging dementsprechend darum, einerseits die brasilianischen Musikdokumente in einen euro-brasilianischen Gesamtzusammenhang zu stellen, andererseits die musikgeschichtliche Betrachtung Europas über die Grenzen des Kontinents hinaus zu erweitern.

Die Auseinandersetzung mit den aufgespürten Problemen, die Kulturstudien, Musikpraxis und Musikkritik betrafen, erfolgte in Gesprächsrunden, die von der 1968 gegründeten Organisation initiiert und mit Mitgliedern des Kammerorchesters São Paulo und dessen Madrigal, das besondere Aufmerksamkeit südamerikanischen Werken des 18. Jahrhunderts widmete, sowie führenden Musikkritikern aus São Paulo durchgeführt wurden.

Aus diesen Besprechungen ging das Projekt eines Festivals "Música Barroca" hervor, bei dem die neuen Perspektiven erprobt und der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollten. Mit Unterstützung des Kulturamts der Stadt São Paulo fand dieses Festival vom 16. bis zum 20. Dezember 1968 statt. Die kunsthistorische Begleitung und die visuelle Gestaltung der Veranstaltungen übernahmen Studenten und Graduierte der Fakultät für Architektur der Universität São Paulo unter Norberto Amorim. Den diskutierten Intentionen entsprechend wurden brasilianische Kompositionen neben europäischen Werken aufgeführt. So wurden in einem Programm, das mit J.S. Bach eröffnet wurde und Concerti von A. Vivaldi beinhaltete, eine anonyme Litanei des Paraíba-Tales sowie das Te Deum von José Joaquim Emérico Lobo de Mesquita (?-1805) aufgeführt. In einem anderen Konzert wurden nach Werken von A. Corelli und J. S. Bach eine Litanei von Lobo de Mesquita und ein Credo von Manoel Julião da Silva Ramos in Erstaufführungen vorgestellt.





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