Geschichte/empirische Forschung. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

Akademie Brasil-Europa

für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

 


Chroniken
Auswahl aus früheren Veranstaltungen


Verhältnis Geschichte/empirische Forschung - eine Grundsatzreflexion
Gesprächsrunde bei der I. Ausstellung von Instrumenten, Spielen und Tänzen Brasiliens, 1966

Im Rahmen einer von Dozenten und Absolventen des Konservatoriums "Carlos Gomes" in São Paulo (Musikfakultät Carlos Gomes) 1966 organisierte 1. Ausstellung von Musikinstrumenten, Spielen und Tänzen der Volkskultur Brasiliens fandem Gespräche zum Verhältnis zwischen Musikgeschichte und musikalischer Volkskunde statt, ein Problemfeld, das seit langem Dozenten und Studenten beschäftigte.

Damit wurde eine Diskussion über die Beziehung zwischen einer auf Quellen gestützten Historiographie und der empirischen Kulturforschung initiiert, die den Musikbereich extrapolieren sollte und die kulturtheoretische Auseinandersetzung der folgenden Jahrzehnte grundlegend bestimmte. Der Grund dafür, dass diese grundsätzlichen, alle Sphären der Kulturstudien betreffenden Überlegungen in der Sphäre der Musikstudien ihren Ausgang nahm, lag darin, dass nur in Konservatorien das Fach Volkskunde neben Musikgeschichte institutionalisiert war. In keiner anderen Institution, Hochschule oder Fakultät war die Volkskunde obligatorischer Teil des Studienprogramms. Damit waren Dozenten und Studenten an Konservatorien mit beiden Fächern, ihren Konzepten, Methoden sowie Darstellungs- und Erklärungsweisen unmittelbar konfrontiert.

Luis Antonio Rodrigues
Aus musikhistorischer Sicht wies Professor Luís Antonio Rodrigues darauf hin, dass Darstellungen zur Musikgeschichte Brasiliens vielfach mit einem Kapitel volkskundlichen Charakters begannen. Aus Mangel an dokumentarischen Quellen stützt sich vor allem die Behandlung der ersten Jahrhunderte der Kolonialzeit auf Kenntnisse, die bei der Beobachtung der in der Gegenwart noch lebendigen Traditionen gewonnen wurden. Betrachtungsweisen, die aus der Denktradition der Volkskunde stammten, so z.B. über den Einfluss "dreier Rassen" bei der Formung der Musikkultur Brasiliens, wurden auch bei musikhistoriographischen Darstellungen vertreten.

Diese Übernahme von Erkenntnissen und Denkmustern der empirischen Forschung war nicht nur in der brasilianischen Musikgeschichtsschreibung zu konstatieren. Auch zahlreiche Werke zur Musikgeschichte im Allgemeinen wiesen einführende Kapitel zur Musik in der Antike oder orientalischer Völker auf, die sich auf Ergebnisse von Beobachtungen der Gegenwart oder sogar von Analysen der dabei gewonnenen Klangmaterialien stützten. Dieses Verfahren war nachvollziehbar, da für die ältere Zeiten keine Klangdokumente oder nur äußerst spärliche und fragliche Musiknotationen vorhanden sind.

Diese Situation wurde im Fach Musikgeschichte anhand des Kapitels "Die Musik in der Antike" der weitverbreiteten populärwissenschaftlichen Musikgeschichte der Welt von Kurt Pahlen (História Universal da Música, 3a ed., São Paulo: Melhoramentos s/d) diskutiert, zumal dieser Autor hervorhebt, dass man versucht ist, ein Bild alter Kulturen auf Grund archäologischer Befunde und Traditionen zu rekonstruieren. Es ist nachvollziehbar, dass diese Weltgeschichte der Musik mit einem Kapitel philosophisch-anthropologischer Natur über "die Musik im Leben des Menschen" anfängt. Ebenfalls bei der Behandlung der Musikgeschichte des amerikanischen Erdteils wird in diesem Werk - ähnlich mit der Situation der Musikforschung der Antike - die unzureichende Kenntnis prä-kolumbischer Musikkulturen hervorgehoben. Es wird sodann ein Bild aus Rückschlüssen konstruiert auf der Grundlage von Reminiszenzen dieser verloren gegangenen Klangwelt in der heutigen indigenen Musik. Dabei wird die indigene Musik als eine abgeschlossene Epoche bzw. Phase der Musikgeschichte Amerikas dargestellt, obwohl es bis heute Gruppen indigener Völker gibt.

Edagard Franco
Aus volkskundlicher Sicht wies Prof. Edgard Arantes Franco darauf hin, dass Darstellungen zur Folklore Brasiliens oft mit Ausführungen kulturhistorischen Charakters beginnen. Das Bedürfnis, Ursprung und Verbreitung von Spielen, Tänzen, Musikinstrumenten, Stilen und Gattungen zu erklären, führte dazu, dass Darstellungen einzelner Erscheinungsformen der Volkskultur von einführenden Erläuterungen historischer Natur vorbereitet oder kommentiert wurden.

Keinesfalls basierten die Ausführungen zur brasilianischen Volksmusikkultur lediglich auf Beschreibung und Analyse von Beobachtetem gegenwärtiger Kulturerscheinungen; die Beobachtungen werden in historische Zusammenhänge eingebettet. Diese würden zuweilen aus hypothetischen Annahmen bestehen, die zur Erläuterung von Ursprung und regionalem Vorkommen der Traditionen dienlich erscheinen, zumal explizite Hinweise auf Spiele und Tänze in alten Quellen spärlich oder zumindest nicht ausreichend erforscht sind.

Auf der anderen Seite jedoch werden diese tradierten Kulturerscheinungen gleichsam a-temporal aufgefasst, ohne eigene Geschichte, d.h. ihr Wandel im geschichtlichen Verlauf wird wenig beachtet. Diese verbreitete Sicht war im Begriff sich zu verändern, da die Wandelbarkeit der Volkskultur im Sinne einer Dynamik der Folklore von renommierten Forschern anerkannt und vertreten wurde.

Das Fach trug früher die Bezeichnung Ethnographie und Volkskunde. In der Ethnographie wurden vor allem indigene Musik und indigene Musikinstrumente behandelt. Das Fach war in den vorangegangenen Jahren umbenannt worden und hatte den Hinweis auf Ethnographie verloren, sodass die Betrachtung der indigenen Kultur nun lediglich als einführendes Kapitel zur Behandlung von Volkstraditionen der nationalen Kultur erfolgte. Dabei gab es die Tendenz, die indigene Kultur nur als einen Beitrag zur Formung brasilianischer Volksüberlieferungen anzusehen. Sie wurde zuweilen auch in der Volkskunde als eine vergangene Epoche verstanden, die heute lediglich Residuen aufweist, d.h. sie wurde in einen historischen Zusammenhang gestellt.

Im Namen der Organisatoren der Ausstellung und der Absolventen wies Antonio A. Bispo darauf hin, dass es auch Traditionen in der Kunstmusiksphäre gab, die - wie z.B. in Kirchen und in Blaskapellenvereinen des Hinterlandes - nicht nur historisch, sondern auch durch unmittelbare Beobachtungen und Feldforschungen zu untersuchen waren. Diese Beachtung von Kulturerscheinungen, die im konventionellen Sinne nicht Gegenstand einer Volkskulturforschung waren, konnten Perspektiven für die Musikgeschichte eröffnen und lokale Musikgeschichtsschreibung anregen. Sie konnten jedoch nicht ohne Berücksichtigung der Vergangenheit der Musikpraxis sowie der Geschichte der Chöre, Orchester und Korporationen erfolgen. Die Verflechtung historischer und empirischer Ansätze und Methoden würde bei einer Auseinandersetzung mit traditionsgebundener kirchlicher und weltlicher Musikpraxis besonders deutlich in Erscheinung treten. Auf der anderen Seite wiesen Traditionen in der Volksmusiksphäre Instrumente, Stile, Gattungen und selbst Kompositionen bekannter Autoren auf, die musikgeschichtlich einzuordnen und zu untersuchen sind. Die Diskussion um die Bestimmung und Eingrenzung von Fachbereichen hing offenbar auch zusammen mit einem Verständnis von Kultursphären und Kategorien einer Kunst-, Volks- und Popularmusik, eine Kategorisierung des Untersuchungsgegenstandes, die in Frage zu stellen war.





Sitemap


Die Akademie

Zielsetzung und Geschichte   -   Organisation   -   Studienzentrum   -   Archive

Aktivitäten

Forschungsprogramme   -    Themen   -   Berichte   -   Chroniken

Online-Zeitschrift

Revista Brasil-Europa

Institutionelle Bindungen

Brasil-Europa   -   I.S.M.P.S. e.V.

Allgemeines

Kontakt   -   Impressum