Empirische Erforschung azorianischer Festpraktiken und Studien atlantischer Kulturprozesse. Akademie Brasil-Europa für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

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Empirische Erforschung azorianischer Festpraktiken in Brasilien und Studien atlantischer Kulturprozesse
Ausstellung zur Volkskunde (1966)

Die Bewegung zur Erneuerung der Kulturstudien, die 1966 mit der Diskussion um das Verhältnis zwischen historischer und empirischer Forschung begann, war von Anfang an mit Fragestellungen konfrontiert, die die nationalen Grenzen Brasiliens überschritten und die Welt der portugiesischen Sprache betrafen. Die Diskussion fand in Zusammenhang mit einer Ausstellung statt, bei der an Hand von Insignien überlieferter Festpraktiken des Pfingstzyklus ins Bewusstsein gebracht wurde, dass in Brasilien eine Tradition gepflegt wird, die für die Azoren charakteristisch ist und in historisch gesicherter Weise auf das Portugal des Mittelalters zurückgeht.

Edgard Arantes Franco, der als Dozent für Volkskunde die Sitzung leitete, war selbst Kapellmeister der Kirche São Paulos, die von portugiesischen Einwanderern und deren Nachkommen besucht wurde, und kannte somit von innen heraus das Kulturleben der portugiesischen Gemeinde. Er nahm u.a. an den Bemühungen von traditionsbewussten Azorianern teil, das Kulturbewusstsein der Immigranten von den atlantischen Inseln und dem kontinentalen Portugal in Brasilien wachzuhalten und zu stärken. So leitete er den Chor und das Orchester zu den jährlichen Festen der Heilig-Geist-Kirche São Paulos, die von den Azorianern stark frequentiert wurde.

Durch diese Beziehung zur Gemeinde der Einwanderer hatte er Zugang zu Partituren azorianischer Volkstänze aus dem 19. Jahrhundert, die nach Brasilien gebracht worden waren und historisches Quellenmaterial darstellten. Der Vergleich der aus der empirischen Forschung bekannten und in der volkskundlichen Literatur behandelten Tradition des Pfingsfestes in Brasilien mit derjenigen der Azoren offenbarte nicht zu leugnende Gemeinsamkeiten. Im weltlichen Bereich waren im Tanzrepertoire Südbrasiliens, das in der Vergangenheit eine starke azorianische Immigration erfahren hatte, Tänze anzutreffen, die für die Azoren als charakterisch galten.

Diese eindeutigen Bezüge zu den Azoren waren in der nationalistisch geprägten volkskundlichen Literatur Brasiliens in Texten behandelt worden, die einen portugiesischen - neben einem afrikanischen und einem indigenen - Kulturbeitrag zur Formung der brasilianischen Nationalkultur zum Gegenstand hatten. Die Sichtweise der geschichts- und traditionsbewussten Vertreter der azorianischen Gemeinde und die von ihnen vermittelten Informationen brachte ins Bewusstsein, dass diese Perspektive der Forschung in Frage gestellt werden musste. Sie war Ausdruck einer kulturpolitischen Strömung und einer politischen Phase Brasiliens des 20. Jahrhunderts und stellte somit selbst eine historische Erscheinung der Geistesgeschichte dar.

Die Aufmerksamkeit der Forschung sollte vielmehr auf die Prozesse gerichtet werden, die die Übertragung von Kulturpraktiken aus den Azoren und anderen Regionen des portugiesischen Raumes und deren Diffusion in Brasilien erklärten. Wie aus den Informationen aus Kreisen der Immigration hervorging, wurden sie von traditionsbewussten Azorianern eingeführt, gepflegt und ihre Verbreitung systematisch betrieben.

Die Umorientierung der Aufmerksamkeit bedeutete nicht nur, stärker und differenzierter die Geschichte der Auswanderung der Azorianer nach Brasilien sowie ihre historisch-ökonomischen Voraussetzungen und Auswirkungen in den Kolonisationsgebieten zu berücksichtigen. Sie musste auch die Kolonisation der Azoren selbst vor der Entdeckung Brasiliens beachten, da nach der Überlieferung die Festpraktiken des Pfingstfestes auf dem portugiesischen Festland des Mittelalters - und zwar mit Bezug auf eine als heilig verehrte Königin des Landes - zurückgingen.

Die Ausrichtung der Aufmerksamkeit bedeutete nicht, dass die betreffenden Studien aussschließlich historisch zu verfahren hätten. Es mussten die Beweggründe für eine solche erstaunliche Kontinuität über Jahrhunderte und über große Entfernungen mit Überquerung des Atlantischen Ozeans untersucht werden, und dies konnte nur durch die Ergründung der zugrundeliegenden Auffassungen erfolgen, die u.a. in den Insignien und Attributen der Festbräuche zum Ausdruck kamen, die Gegenstand empirischer Beobachtung waren. Um die Bedeutung dieser Ausdrucksweisen der Festtradition zu verstehen, war es nicht nur notwendig, theologische Grundlagen und die Geschichte des theologischen Denkens hinsichtlich des Heiligen Geistes - und somit der Trinitätsauffassungen - zu berücksichtigen, sondern die überlieferten Sichtweisen und Glaubensinhalte zu untersuchen, die den Kulturerscheinungen zugrundelagen, da die Praktiken trotz ihres eindeutigen religiösen Bezugs oft von Vertretern der Kirche nicht unterstützt oder auch nur toleriert wurden.

Somit trug die Auseinandersetzung mit den traditionellen Festpraktiken des Heiligen Geistes maßgeblich zur Durchsetzung der Einsicht bei, dass die Interaktion von historischen und empirischen Vorgehensweisen in den Kulturstudien stärker beachtet werden müsste. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen, die sich nach der Unterscheidung von Sphären der Bildungs-, Volks- und Popularkultur richteten, verlangte eine Umorientierung der Aufmerksamkeit auf Prozesshaftes. Darunter sollten aber nicht nur historische oder sozioökonomische Entwicklungen verstanden werden, sondern Prozesshaftes, das den Überlieferungen innewohnt und die Verbreitung von Festpraktiken aus ihren eigenen Beweggründen und Wirkintentionen heraus bestimmt. Die aus Beobachtungen und Befragungen gewonnenen Erkenntnisse wiesen auf die tiefgreifende Bedeutung von pneumatischen Auffassungen hin, die den Heiligen Geist als Bewegungs- und Verlebendigungsprinzip ansehen, der den Prozess verursachte, der zur Konfigurierung der Schöpfung führte. Diese Auffassung konnte zwar auf die Genesis zurückgeführt werden, zeigte sich aber nicht als Ausdruck gelehrter Bildung, sondern eines umfassenden Welt- und Menschenbildes, das die Wahrnehmung der Wirklichkeit und selbst den Begriff der Kultur bestimmte. Seine Untersuchung sollte - ausgehend von den kulturellen Erscheinungsformen im atlantischen Kontext - ein besonderes Anliegen transdisziplinärer Kulturwissenschaft sein.





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