Ethische Aufgaben für Kulturstudien im 21. Jh.. Tagungen der Akademie Brasil-Europa für Kultur-und Wissenschaftswissenschaft

Akademie Brasil-Europa

für Kultur- und Wissenschaftswissenschaft

 


Berichte
Auswahl aus Tagungen, Kolloquien und Sitzungen


Ethische Aufgaben und Herausforderungen für Kulturstudien im 21. Jahrhundert
Kolloquium - "H. Villa-Lobos und J.S. Bach: Deutungen und Perspektiven des Barock"

Quartett des Westdeutschen Rundfunks - Villa-Lobos Konzert
Im Jahr 2000 wurde ein Kolloquium im Studienzentrum der A.B.E. in Köln durchgeführt, das im Licht der Kommemorationen des Jahres von Albert Schweitzer und Johann Sebastian Bach stand. Das Kolloquium gehörte zu den Veranstaltungen im Rahmen des Trienniums wissenschaftlicher Arbeiten zum Anlass der Entdeckung Brasiliens vor 500 Jahren. Ihm ging der Internationale Kongress "Brasil-Europa 500 Jahre: Musik und Visionen" voraus, der 1999 als Eröffnung des Trienniums in Köln und Bonn unter der Schirmherrschaft der Brasilianischen Botschaft realisiert wurde.

Als erstes Kolloquium der Reihe sollte gleich zu Beginn des 3. Jahrtausends die Ethik thematisiert und die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit der Beachtung von ethischen Aspekten bei Studien von Kulturprozessen in internationalen Beziehungen gerichtet werden. Da die A.B.E. die Auffassung vertritt, dass Kulturwissenschaft in engem Zusammenhang mit den Studien der Wissenschaft selbst zu betreiben ist, sollten ethische Aspekte sowohl in Kulturerscheinungen und -prozessen als auch in der Art und Weise der Produktion und Verbreitung des Wissens selbst sowie in den Netzwerken und Arbeitsweisen der Forscher und Studierenden beachtet werden.

Quartett des Westdeutschen Rundfunks - Villa-Lobos Konzert
Mit der Auswahl des Themas ihres ersten Kolloquiums des neuen Jahrhunderts suchte die A.B.E. der Tradition gerecht zu werden, in die sie sich einfügt und die sie weiterträgt. Die Sorge um ethische Fragen wurde seit der Gründung der Akademie für geisteswissenschaftliche und künstlerische Erneuerung von Dozenten und Studenten des Mozarteums in Salzburg kurz nach Beendigung des Ersten Weltkrieges und im Zeichen des Neuanfangs stets lebendig gehalten. Der Zusammenbruch des alten Europas wurde als Ergebnis einer ethisch bedingten Kulturkrise empfunden. Ein neuer Anfang konnte nur aus einer Wiederbesinnung auf ethische Grundlagen erfolgen. Dieses Anliegen prägte die Suche nach geeigneten Wegen der Deutung der Realität, der Lebensführung und des Wirkens in Kultur und Kunst. Es fand in São Paulo 1935 einen Ausdruck in der Gründung der Bach-Gesellschaft, die die Bach-Bewegung Europas in Brasilien vertrat. Sie diente nicht nur dem äußeren Anliegen der Verbreitung des Bach-Werkes und eines bis dahin wenig gepflegten Repertoires der Alten Musik. Sie hatte als Ziel, das als oberflächlich empfundene Kultur- und Konzertleben zu verinnerlichen, es nach seinen tragenden Auffassungen und Auswirkungen zu befragen und mitzugestalten. Der Sinn für die Universalität ethischer Prinzipien und die damit verbundene Humanität sollte in Zeiten eines euphorischen, durch die politische Situation in Europa und in Brasillien alles beherrschenden Nationalismus wachgehalten werden. Eine entscheidende Unterstützung erfuhr dieses Anliegen in Brasilien durch ein Schreiben von Albert Schweitzer an die Bach-Gesellschaft von São Paulo. Seitdem wurden die Werke Schweitzers studiert und seine Auffassungen über eine Ethik des Lebens, die auch eine andere, von Achtung und Respekt getragene Haltung des Menschen gegenüber den Kreaturen bedingt, als durchdachte und kulturphilosophisch vertiefte Darstellung längst vertretener und gelebter Ansichten empfunden, die damit eine wertvolle Stütze erhielten.

Das Spannungsfeld zwischen der Universalität - im Sinne allgemein gültiger ethischer Prinzipien - und dem Nationalismus der 30er und 40er prägt in vieler Hinsicht die Kultur- und Musikentwicklung Brasiliens und muss in seinen Beziehungen zu internationalen Entwicklungen gesehen werden. Die Relevanz dieses vielfach im Namen Bachs ausgetragenen Spannungsfeldes manifestierte sich in den "Bachianas Brasileiras" von Heitor Villa-Lobos. Ihre bemerkenswert erscheinende Bezeichnung und die in der Vielfalt ihrer Formen und Ausdrucksweisen sich offenbarende komplexe Konzeption erschweren konventionelle analytische und musikhistorische Herangehensweisen und legen einen kulturwissenschaflich orientierten Ansatz nahe. Die Spannung zwischen den Auffassungen von Villa-Lobos und der Bach-Bewegung São Paulos äußerte sich in einem in drohendem Ton verfassten Schreiben des damals politisch einflussreichen Komponisten an die Bach-Gesellschaft, das heute ein Dokument darstellt, das aufmerksame und differenzierte Lektüre verdient.

Die Untersuchung des Spannungsfeldes zwischen der Bach-Bewegung und H.Villa-Lobos veranlasst Überlegungen grundsätzlicher Art, die zum Problemkreis des Barocks und dessen Wiederentdeckung und Präsenz im 20. Jahrhundert führten. Die Diskussion sollte in Arbeitsgruppen nach Beendigung des Kolloquiums fortgeführt und bei der nächsten Tagung in der A.B.E. wiederaufgegriffen werden.

Die Ethik Schweitzers der Achtung vor dem Leben, die eng mit seinen Kulturauffassungen zusammenhängt, sollte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als weltweit die Zerstörung der Natur und die Brutalität gegenüber anderen Lebewesen unvorstellbare Ausmaße angenommen hatten, ins Bewusstsein gebracht werden. Damit entsprach das Kolloquium dem Forschungsprogramm "Kultur/Natur" der A.B.E. und richtete die Aufmerksamkeit zu Beginn des neuen Jahrhunderts auf Fragen der Ökologie und der Tierrechte in der Kulturforschung. Damit wurde auch hervorgehoben, dass eine Auffassung des Kulturbegriffes, die ethische Prinzipien relativiert, nicht annehmbar ist. In der Diskussion des hiermit verbundenen Fragenkomplexes, der eine Präzisierung und zugleich Ausdifferenzierung des Kulturbegriffes - auch in seiner inzwischen durgesetzten kulturanthropologischen Auffassung - impliziert, liegt eine der theoretischen Herausforderungen der Kulturwissenschaft im 21. Jahrhundert.

Das Rahmenprogramm des Kolloquiums umfasste eine Ausstellung von Originaldokumenten zur Bach-Bewegung und der Rezeption Schweitzers in Brasilien sowie ein Konzert mit Werken von H. Villa-Lobos, das von Musikern des Westdeutschen Rundfunks dargeboten wurde.





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